Weltkrise im Fuldaer Zukunftssalon

Die von der Stadt Fulda und der Hochschule Fulda gemeinsam durchgeführte Veranstaltungsreihe Fuldaer Zukunftssalon holt regelmäßig hochkarätige Referenten zu fundierten Vorträgen in den Fürstensaal, um mit ihnen und untereinander ins Gespräch zu kommen. Hier bietet sich die besondere Möglichkeit, an den grundlegenden und auch an den neuesten Erkenntnissen aus Forschung und Wissenschaft der jeweiligen Fachbereiche der Vortragenden teil zu haben.

Jetzt gelang es den Veranstaltern, den bundesweit renommierten Migrationsforscher Dr. Klaus J. Bade aus Berlin mit seinem Vortrag „Die ‚Flüchtlingskrise‘: Einschätzungen, Fehleinschätzungen und Handlungsperspektiven“ für den Zukunftssalon zu gewinnen. Mehrere Hundert Zuschauer im gut besuchten Fürstensaal ließen sich sowohl durch seinen kurzweiligen und mitreißenden Vortragsstil als auch für seine grundlegenden Aussagen und Impulse zum Thema begeistern. Den Veranstaltern kann man für die Wahl des ‚Am Puls der Zeit‘ liegenden Themas und für die Verpflichtung dieses bundesweit anerkannten und renommierten Referenten nur gratulieren. Schon seine im besten Sinn des Wortes radikale Feststellung „Wir haben eigentlich keine Flüchtlingskrise, wir haben eine Weltkrise“ ließ die Zuschauer aufhorchen. Seine prägnanten und klaren Aussagen zur derzeitigen Flüchtlingspolitik und den damit einhergehenden Verwerfungen, Versäumnissen und Problemen ließen manchem Besucher den Atem stocken.

Mit der ausdrücklichen Erlaubnis von Dr. Klaus J. Bade dokumentiert die AGORA nachfolgend ein aktuelles und sehr ausführliches Interview, welches der Migrationsforscher dem Wissenschaftsportal L.I.S.A der Gerda-Henkel-Stiftung zur Problematik der aktuellen Flüchtlings-/Weltkrise gegeben hat.

Im Original zu lesen: http://www.lisa.gerda-henkel-stiftung.de/klaus_j_bade

Herr Professor Bade, Sie zählen zu den renommiertesten Migrationsforschern. Zurzeit erleben wir eine – ja, was eigentlich? Eine Flüchtlingsflut, -welle, -ströme, -problematik, -bewegung?

Prof. Bade: Was heute von vielen Politikern wie ein unerwartbares, geradezu schicksalhaftes Migrationsunwetter mit Jahrhundertflut aus heiterem Himmel beschrieben wird, das sich an aktuellen Krisenherden im arabischen Raum entzündet hat, überrascht Migrationsforscher nicht so sehr. Niemand konnte zwar konkret voraussagen, was sich wann in welchem Umfang wo und wie ereignen würde. Prognosen sind bekanntlich immer ein Problem – und besonders dann, so Karl Valentin, wenn es dabei um die Zukunft geht. Aber es gab hinreichend Trendanalysen und Warnungen vor sich aufbauenden Kraftfeldern im Wanderungsgeschehen. Literaturkenntnis schützt vor Neuentdeckungen:

Wir haben schon frühzeitig, zum Beispiel im „Manifest der 60: Deutschland und die Einwanderung“ von 1994 darauf hingewiesen, dass sich in verschiedenen außereuropäischen Großregionen, vor allem des globalen ‚Südens’ langfristig ein Migrationsdruck aufbaut. Man kann sich das wie ein Fass mit Problemen vorstellen, dass immer mehr vollläuft, irgendwann überläuft und dann Migrationsbewegungen auslöst. Sie sind allerdings bislang zu mehr als 90 Prozent im weiteren Umfeld geblieben und haben Europa nur zu einem sehr geringen Bestandteil tangiert.

Was wissen wir über die Hintergründe? Was kommt da weiter auf uns zu?

Prof. Bade: Es treffen mehrere Entwicklungen aufeinander. Das gilt vor allem für tiefgreifende wirtschaftliche Umstrukturierungen, ökologische Zerstörung und eine Ausplünderung, an der auch die westliche Welt maßgeblich beteiligt ist. Hinzu kommt ein rapides Bevölkerungswachstum und eine aus all dem resultierende Verschlechterung von Existenzbedingungen, Lebens- und Überlebenschancen. Dem gegenüber präsentieren die elektronischen Medien und insbesondere die internationalen TV-Programme attraktiv wirkende Gegenwelten. Der wanderungstreibende Problemdruck hat sich seit Anfang der 1990er Jahre deutlich verschärft.

Das gilt zum Beispiel für die wachstumsblockierende und krisentreibende EU-Handels-und Agrarpolitik gegenüber den Herkunftsländern von oft unfreiwilligen Wirtschafts- und Fluchtwanderungen. Und es gilt, um ein großregionales Beispiel zu nennen, für das immer engmaschiger gewordene Netz von neokolonialen Strukturen, das über Afrika gespannt wurde. Es besteht vielfach aus doppelter Ausbeutung: von außen durch die verschiedensten Geschäftsinteressen und von innen durch mit diesen Interessen kooperierende Diktaturen oder andere korrupte Führungseliten. Hinzu treten in Afrika als fluchttreibende Faktoren schließlich auch kriminelle bzw. mafiotische Strukturen in Kooperation mit den abhängigen Führungseliten schwacher Staaten bzw. ’Failed States’, in die westliche Rüstungskonzerne aber nach wie vor kraftvoll ihre Militaria exportieren.

Die Flucht aus afrikanischen und arabischen Krisenzonen mit politisch, ethnisch, religiös-kulturell oder anderweitig bedingten Konflikten und aus wirtschaftlicher Not ist aber nur ein Beispiel für das globale Fluchtgeschehen mit seinen zahllosen Opfern. Die weltweiten Fluchtbewegungen haben mit derzeit ca. 60 Millionen Menschen bislang nicht gekannte Dimensionen erreicht, die selbst diejenigen nach dem Zweiten Weltkrieg übertreffen. Allein 2014 wurden weltweit fast 14 Millionen Menschen zu Flüchtlingen.

Und das ist wohl erst der Anfang, denn klimagetriebene Fluchtwellen kündigen sich schon an. Auch bei der Flucht aus Syrien spielte das schon eine indirekte Rolle: Hunderttausende waren wegen des Absinkens des Grundwasserspiegels und des dadurch beschleunigten Vorrückens der Wüsten aus vertrocknenden Agrarregionen in die Städte geflohen, wo sie sich eine neue Existenz aufbauen wollten. Sie wurden dort von Krieg und Bürgerkrieg überzogen und verließen dann als Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlinge das Land.

Die Flucht aus dieser Krisenregion wird anhalten; denn ein Ende von Krieg und Bürgerkrieg im weithin zerstörten Land ist auf mittlere Sicht nicht absehbar. Das Eingreifen der Großmächte, zuletzt von Russland, dürfte die internen Konflikte nur verschärfen. Am Ende könnten der komplette Zusammenbruch aller Infrastrukturen und die Machtübernahme durch sich gegenseitig bekämpfende „War Lords“ und ihre Milizen stehen, darunter auch der ‚Islamische Staat’, wenn er am Ende nicht ohnehin der Nutznießer dieses chaotischen Flächenbrandes sein wird. Die russische Interventionspolitik könnte hier einiges von den Folgen der amerikanischen lernen.

Das Bundesinnenministerium erwartet in diesem Jahr 800.000 Flüchtlinge, die nach Deutschland kommen. Realistisch?

Prof. Bade: Gute Frage, denn die Phantasie kennt scheinbar keine Grenzen: Bis zu eine Million oder nun sogar schon 1,5 Millionen und noch mehr Flüchtlinge bzw. Asylsuchende werden inzwischen angeblich in diesem Jahr in Deutschland erwartet. Unverantwortliche zahlenfetischistische Hysteriker politischer und medialer Provenienz feiern fröhliche Urstand. Einigermaßen verlässliche Zahlen für 2015 werden erst im Frühjahr 2016 vorliegen.

Wenn wir möglichst realitätsbezogen bleiben, dann könnte sich folgendes Bild ergeben: Bis September 2015 sind ca. 580.000 Flüchtlinge amtlich erfasst worden; nicht mitgezählt, logischerweise, die 200-300.000 Flüchtlinge, die sich angeblich irregulär oder doch noch unangemeldet im Land aufhalten. Rund eine Million Flüchtlinge bis Jahresende wäre demnach eine durchaus vorstellbare Größenordnung.

Aber das sind Brutto-Zahlen, nicht vor Steuern, sondern vor Asyl- bzw. Schutzentscheid. Gehen wir davon aus, dass auch weiterhin ca. 50 Prozent der Flüchtlinge, mit welchen Status auch immer, bleiben dürfen, dann wären das also ca. 500.000 im Jahr 2015; nicht zu vergessen die vorwiegend europäischen Wirtschaftswanderer, bei denen es 2014 einen Wanderungsgewinn in Höhe von ca. 350.000 gab. Schriebe man diesen Wanderungsgewinn für 2015 fort, dann ergäben sich am Jahresende also ca. 500.000 Flüchtlinge plus ca. 350.000 sonstige Zuwanderer, macht also netto ca. 850.000 Neuzuwanderer insgesamt.

Bei manchen Flüchtlingen, weniger bei den vorwiegend aus Europa stammenden Wirtschaftswanderern, ist allerdings mit Familiennachzug zu rechnen. Das steht ihnen zu, wenn sie einen gesicherten Aufenthaltsstatus haben und ein Einkommen nachweisen können, mit dem sie sich und ihre nachziehende Familie unterhalten können. Damit wäre also insgesamt durchaus ein Wanderungsgewinn von gut eine Million Menschen vorstellbar. Dabei sollte man allerdings berücksichtigen, dass nicht alle Flüchtlinge in Deutschland bleiben wollen, zum Beispiel von den Flüchtlingen aus Syrien nach einer nicht repräsentativen Umfrage derzeit nur etwa jeder zehnte.

Aber auch das bliebe für die Kostenrechnung der Kommunen eine gehobene Milchmädchenrechnung; denn bis zur Ermittlung der Schutzquote, also bis zum Ende des letzten Einspruchsverfahrens gegen einen Asylentscheid, vergeht oft bis zu einem Jahr, in dem die Antragsteller ja im Land bleiben und in den Kommunen auf diese letzte Entscheidung bzw. auf deren Vollzug warten. Und der möglicherweise anschließende Familiennachzug ist vollends unkalkulierbar, von der zusätzlichen Frage des Zuzugs in ohnehin überlastete sogenannte Problemviertel einmal ganz abgesehen.

Wie auch immer – es geht jedenfalls um Dimensionen, mit denen Demographen in frühen Modellrechnungen experimentierten, wenn es darum ging, gegen den Strudel des demographischen Wandels die derzeitige Altersstruktur der Bevölkerung in Deutschland aufrechtzuerhalten. Das wurde allerdings meist mit dem Bemerken begleitet, dass eine so starke Zuwanderung auf Dauer gesellschaftlich wohl kaum durchzustehen sei. Hier hat offenkundig, jedenfalls für ein Jahr, die Realität die Modellrechnungen überholt.

Warum eigentlich Deutschland? Welche Erwartungen sind bei den Flüchtlingen mit Deutschland verbunden?

Prof. Bade: Viele Flüchtlinge sind über das Land ihrer Träume nur unzureichend informiert. Dergleichen war um die Mitte des 19. Jahrhundert mitunter auch bei der großen deutschen transatlantischen Massenwanderung der Fall, wenn den Rhein hinunterfahrende Auswanderer glaubten, die nächste „Station“ nach Hamburg sei „Amerika” und dort werde sich alles Weitere finden. Aber die meisten hatten doch über Auswandererbriefe von Verwandten und Bekannten, über kommerzielle Auswandereragenturen, karitative und später auch staatliche Beratungsstellen ziemlich konkrete Vorstellungen von ihren Wanderungszielen und den Bedingungen dort.

An die Stelle der Auswandererbriefe von damals sind heute Smartphones, soziale Medien und internationale Fernsehprogramme getreten. Flüchtlinge, die Verwandte in Deutschland haben und über solche Informationsmedien verfügen, haben mitunter sehr konkrete und positive Grundvorstellungen von Deutschland: ein Land, das Flüchtlinge aufnimmt, in dem Recht, Gesetz, Ordnung und Sicherheit gelten, in dem Flüchtlinge anständig behandelt werden, in dem es gute wirtschaftliche und soziale Perspektiven für die Lebensgestaltung gibt, so dass man Geld an die zurückgebliebene Familie überweisen oder sie später sogar nachholen kann usw.

Entscheidend waren im Sommer 2015 die berühmten drei Worte der Bundeskanzlerin „Wir schaffen das“ sowie die Ankündigung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, keine Syrien-Flüchtlinge nach dem Dublin-Reglement mehr zurückzuschicken in die Länder, in denen sie zuerst europäischen Boden betreten hatten. Beides zusammen wurde in Syrien als Willkommenssignal verstanden und löste eine Art Schabowski-Effekt im Wanderungsgeschehen aus. Das wurde noch verstärkt durch das zeitweise umlaufende, wohl aus Vorschlägen in der deutschen Flüchtlingsdiskussion stammende Gerücht, Deutschland könnte sogar Schiffe entsenden, um syrische Flüchtlinge im Libanon oder in der Türkei abzuholen.

Was kann man in Deutschland tun, um die Probleme zu begrenzen?

Prof. Bade: Nationale Handlungsspielräume sind hier begrenzt. Wir haben bei der Flüchtlingsaufnahme und -versorgung, vor allem in den Kommunen und durch ehrenamtlichen Helfer aus der Bürgergesellschaft, bislang Hervorragendes geleistet. Das Bild des „hässlichen Deutschen“ ist hinter dem Bild des freundlichen, aufnahmebereiten Deutschen zurückgetreten, obgleich in keinem anderen Land derzeit Gastfreundschaft und Fremdenfeindlichkeit so aufeinandertreffen wie in Deutschland.

Wir improvisieren aber notgedrungen, bei wachsendem Problemdruck: Es fehlen die Strukturen, die eine längere Belastung in diesen Dimensionen möglich machen. Das fing bei dem vor Jahren heruntergefahrenen Personal des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge und dem dadurch ausgelösten Bearbeitungsstau mit viel zu langen Entscheidungsverfahren an. Es ging weiter mit dem Abbau bzw. der Umnutzung von ursprünglich für die Aufnahme von Flüchtlingen gedachten Unterkünften, die uns heute fehlen, um nur zwei Beispiele zu nennen.

Alle aufgenommenen Flüchtlinge sollten eine knappe Handreichung in ihrer Landessprache über die Grundrechte, Grundwerte und Spielregeln im Aufnahmeland erhalten. Eine entsprechende Verpflichtungserklärung sollte nach einem kurzen Aufnahmegespräch in Anwesenheit eines Dolmetschers unterschrieben werden, damit gesichert ist, dass die Botschaft verstanden wurde.

Wichtig für alle, die bleiben dürfen, sind frühzeitige Integrationshilfen im Blick auf Sprache und berufliche Zusatzqualifikation, um mitgebrachte Fähigkeiten am Arbeitsmarkt einsetzbar zu machen. Das wird insgesamt Milliarden kosten, die aber, auch nach Einschätzung des aktuellen Jahresgutachtens der „Wirtschaftsweisen“, gut investiert sind. Denn frühzeitige Teilhabeförderungen sind wesentlich billiger als die Folgekosten gescheiterter Integration in Gestalt von Langzeitarbeitslosigkeit und Sozialtransfers.

In weiten Kreisen beunruhigt die Tatsache, dass nur bis zu drei Prozent der Asylbewerber anerkannt werden, aber mehr als 50 Prozent durch Anerkennung als Flüchtlinge nach der Genfer Flüchtlingskonvention oder aus anderen Gründen mehr oder minder lange oder auch auf Dauer bleiben dürfen. An sich ist das eine wichtige humanitäre Errungenschaft. Sie kann aber das ‚Kippen’ der bislang noch verhalten positiven Stimmung in der Bevölkerung befördern, wenn andere europäische Staaten Deutschland mit seinem großen Flüchtlingsaufkommen achselzuckend weiter im Regen stehen lassen, so dass hier zwei Sozialprobleme in Sichtweite kommen: einerseits eine veritable Opferkonkurrenz zwischen inländischen Armen und ausländischen Flüchtlingen und andererseits eine generelle Überlastung und dauerhafte Zweckentfremdung kommunaler Einrichtungen, wenn zum Beispiel für Kultur und Sport gedachte Gebäude gesperrt und für die Aufnahme von Flüchtlingen verwendet werden müssen.

Was wird in Deutschland schon konkret getan und wie kann man das beurteilen?

Prof. Bade: Das Kabinett hat eine Reihe von Hilfsmaßnahmen für die Kommunen beschlossen, die weiterführen, aber wohl noch nicht zureichend sind. Organisatorisch hat man zuletzt Leitungsfunktionen aus dem überforderten Bundesministerium des Inneren herausgenommen, das vor allem in den Kategorien von Sicherheitspolitik und Gefahrenabwehr denkt. Man hat diese Funktionen und unter Leitung des Chefs des Bundeskanzleramtes gebündelt und dabei auch Zuständigkeiten anderer Ministerien verstärkt. Das ist ein wichtiger, von uns seit langem geforderter Schritt voran, an dessen Ende auch die konsequente Verschiebung der zentralen Zuständigkeit vom Bundesministerium des Inneren in das Bundesministerium für Arbeit und Soziales stehen sollte; denn bei Migration und Integration geht es eben nicht vorrangig um Gefahrenabwehr und Sicherheitspolitik, sondern um Arbeit und Soziales.

Im Schatten dieser konstruktiven Interventionen aber gibt es auf nationaler Ebene restriktive, zum Teil auch tendenziell populistische Maßnahmen, die von Wissenschaftlern, humanitären Organisationen, Gewerkschaften, Kirchen und sogar Ausländerbehörden kritisiert wurden; denn sie sind mitunter nur kostspielig, ineffektiv oder sogar kontraproduktiv und treffen überdies wieder einmal oft die Falschen.

Im Bereich der Flüchtlingsverwaltung gilt das zum Beispiel für die Abschaffung des sogenannten „Taschengeldes”, von dem sich Flüchtlinge zum Beispiel die Chipkarten für ihre Handys, Bustickets oder einige Kleinigkeiten des alltäglichen Bedarfs kaufen konnten. Diese Umstellung auf Sachleistungen ist sehr verwaltungsaufwendig. Sie bindet Kräfte, die bei der allgemeinen Überforderung anderweitig dringend gebraucht werden. Und sie wird niemanden, der vor Krieg, Bürgerkrieg oder Verelendung flüchtet, irgend beeindrucken, wenn man überhaupt davon erfährt. Sie quält nur die Flüchtlinge in den Aufnahmeeinrichtungen in der vordergründigen und längst Ammenmärchen widerlegten Vorstellung, dass so genannte ‘Fehlanreize’ Wanderungsbewegungen motivieren oder Wanderungsrichtungen bestimmen würden.

Ähnliches gilt für die vermeintlich abschreckende, in Wahrheit nur psychisch destabilisierende Senkung der Überprüfungsfrist für Geduldete von sechs auf drei Monate und umgekehrt die Erhöhung der Lagerhaltung von Antragstellern von drei auf sechs Monate. Und auch zur Bekämpfung der Ursachen unfreiwilliger Wanderungen in den Ausgangsräumen trägt die restriktive Reform nur vorgeblich bei: Die kleine Erhöhung der ohnehin erwiesenermaßen ineffektiven, zum Teil auch kontraproduktiven konventionellen Entwicklungshilfe verschleiert, dass das nunmehr angestrebte Niveau schon früher einmal zugesagt, aber gar nicht angestrebt und die Entwicklungshilfe in Wahrheit sogar gesenkt worden war.

Aber was sollen wir als Wissenschaftler denn noch tun jenseits der von mir seinerzeit konzipierten „kritischen Politikbegleitung“ in Gestalt der Veröffentlichung von Forschungsergebnissen in menschenfreundlicher Prosa und der immer wieder erneuten, oft über die Medien organisierten massiven Kritik an falschen, ineffektiven oder sogar kontraproduktiven politischen und oft auch nur politisch-populistischen Maßnahmen? Die mangelnde Lernfähigkeit, mitunter auch defensive Erkenntnisverweigerung von Politik in Regierungsverantwortung ist manchmal zum Verzweifeln. Ein höchstrangiger Ministerialbeamter hat mir in anderem Zusammenhang sogar einmal dem Sinne nach gesagt: „Rückblickend betrachtet hatten Sie Recht mit Ihren warnenden Voraussagen – aber das konnten Sie doch damals doch gar nicht wissen…“

Was könnte und sollte auf europäischer Ebene geschehen?

Prof. Bade: Das herkömmliche europäische Asylrecht mit dem Dublin-System, nach dem die Erstzugangsländer auch die Asylverfahren abzuwickeln haben, ist in der Praxis weitgehend zusammengebrochen. Das sieht auch die Kanzlerin so. Dieses System hing im Grunde von Beginn an deswegen schief, weil es auf Kosten der Grenzstaaten funktionierte und auf Druck der großen Staaten in der Mitte Europas vereinbart wurde, bevor noch die entsprechenden Voraussetzungen in den Staaten an den Schengen-Grenzen geschaffen waren.

Wir brauchen ein neues europäisches Asylrecht mit festen Aufnahmequoten, das mithilfe einer europäischen Asylagentur verwaltet werden sollte, die nicht als Steuerungsinstrument, sondern als Servicezentrum für die Mitgliedsstaaten funktioniert. Dann könnten sich Flüchtlinge sogar ihr Zielland aussuchen, zum Beispiel über eine Prioritätenliste mit maximal drei Plätzen. Nehmen wir an, sie würden über die zentrale Agentur, die sich mit den genannten Mitgliedsstaaten rückgekoppelt hat, erfahren, dass die Quoten der beiden erstgenannten Länder erschöpft seien und dass nur das dritte genannte Land noch infrage käme. Würde dieses Angebot nicht angenommen oder wäre die Quote dieses Landes ebenfalls schon erschöpft, dann müssten sich die Flüchtlinge damit abfinden, ohne weitere Berücksichtigung ihrer Wünsche in EU-Europa verteilt zu werden. Auch dabei könnten im Rahmen des Möglichen noch humanitäre Belange, zum Beispiel Fragen der Familienzusammenführung, Berücksichtigung finden.

Das alles setzt aber voraus, dass es in Europa annähernd vergleichbare Standards bei den Asylverfahren und bei der Unterbringung von Flüchtlingen gibt. Erst auf dieser Grundlage kann es eine Einigung über Quoten geben, denn es macht ja keinen Sinn, zum Beispiel in der derzeitigen Situation, in der etwa Griechenland und Italien mit der Flüchtlingsaufnahme vollkommen überfordert sind, diesen Ländern über Quoten größere Zahlen von Flüchtlingen zuzuweisen, für deren Aufnahme dort die Voraussetzungen fehlen.

Das Bemühen um eine immer bessere Organisation der Flüchtlingsaufnahme in Europa ändert aber nichts an den Ursachen der Fluchtbewegungen und zäumt das Pferd im Grunde vom Schwanz her auf. Es bringt ja wenig, die defensive Verwaltung der Folgen zu verbessern, wenn die wanderungstreibenden Ursachen immer schubkräftiger werden.

Und Europa kümmert sich, allen politischen Sonntagsreden zum Trotz, fast gar nicht um die Bekämpfung der Fluchtursachen. Es setzt vor allem weiterhin und noch verstärkt auf die Abwehr von Flüchtlingen, die seit 1990 schon mehr als 30.000 und 2014 allein 3.500 Tote im Mittelmeer gekostet hat, nicht zu reden von denen, die auf dem Weg dahin umgekommen sind. Hierzu läuft jetzt, auch auf Druck aus Deutschland hin, die immer schärfere Abriegelung der „Festung Europa“ an und auch weit vor ihren Grenzen:

Das gilt erstens für den hektischen Aufbau der ‘Hot Spots’ genannten Auffanglager mit Registrier- und Verteilerzentren an den europäischen Schengen-Grenzen. Es nützt aber doch nichts, grenznahe Zentren zur europaweiten Verteilung von Flüchtlingen einzurichten, wenn die Länder, in die die Flüchtlinge verteilt werden sollen, dafür noch unzureichend eingerichtet sind oder gar die Aufnahme verweigern.

Es gilt zweitens für die sogenannte Externalisierung der Grenzverteidigung durch den Auf- und Ausbau von „Transitzentren” genannten Auffanglagern mit Asylschleusen in der Nähe der Ausgangsräume von Fluchtwanderungen. Dort sollen in Schnellverfahren Asylsuchende mit möglichen Bleibeperspektiven ausgesondert, sogenannte Wirtschaftsflüchtlinge auf andere Möglichkeiten der Zuwanderung hingewiesen und die mit Sicherheit meisten anderen irgendwie wieder zurückgeschickt werden sollen. Das wird nicht funktionieren, weil die sich dann wieder den Schleppern anvertrauen werden, deren Bekämpfung im Mittelmeer auch nur ein populistisches Schauspiel ohne reale Chance ist.

Und es gilt drittens sogar für Vereinbarungen mit fluchttreibenden Despotenregimen wie zum Beispiel im Sudan und Eritrea. Sie sollen gegen entsprechende Forderungen und Investitionen, zum Beispiel in ihre Grenzsicherungssysteme, sowie durch Beratung und nötigenfalls auch Training ihrer Sicherheitsorgane dazu gebracht werden, Menschen, die vor ihnen selbst oder durch ihre Territorien fliehen wollen, an ihrer Flucht in Richtung Europa zu hindern. Der tote Flüchtlingshändler Gaddafi lässt grüßen. Er war hier auf furchtbare Weise seiner Zeit voraus.

Welche Herausforderungen sehen Sie auf globaler Ebene?

Prof. Bade: In einer Welt, in der heute fast die Hälfte des globalen Reichtums in den Händen von weniger als einem Prozent der Weltbevölkerung liegt, in der im wirtschaftlichen Süd-Nord-Transfer für jeden Dollar, der in den globalen ‚Süden’ fließt, zwei Dollars in der Gegenrichtung zurückfließen, in dieser Welt gibt es nicht eine weltweite „Flüchtlingskrise“, sondern eine Weltkrise, die Fluchtbewegungen erzeugt. Man kann sich in diesem Zusammenhang an ein Gedicht von Bertolt Brecht aus dem Jahr 1934 erinnern: „Reicher Mann und armer Mann standen da und sahen sich an. Und der Arme sagte bleich: ‚Wär’ ich nicht arm, wärst du nicht reich’“.  

Wenn man diese Weltkrise bekämpfen will, muss man sich nicht nur um die Begrenzung ihrer Folgen in Gestalt von Fluchtbewegungen, sondern auch um die Bekämpfung ihrer Ursachen kümmern. Dazu muss man weltökonomische, weltökologische und weltgesellschaftliche Systemfragen stellen, wie sie auch der kluge, aus der nichtmarxistischen südamerikanischen Befreiungstheologie stammende Papst Franziskus in seiner Enzyklika “Laudato Si“ in ungewohnter Schärfe angesprochen hat. Die karitativen Engagements von großen Stiftungen und auch von großen Unternehmungen sind demgegenüber nur wohlgemeinte Tropfen auf den heißen Stein. Es führt kein Weg mehr vorbei an einer Auseinandersetzung mit dem von wenigen ökonomischen Machtzentren aus gesteuerten, in seiner fortschreitenden Hypertrophie desaströsen, von Helmut Schmidt als „Raubtierkapitalismus“ kritisierten Wirtschaftssystem mit seinen menschenfeindlichen Schattenseiten. Das ist, um ein gebräuchliches Modewort zu benutzen, in der Tat „alternativlos“.

Weil dieses System global ausgewuchert, verankert und verzahnt ist, gibt es hier keine zügigen Patentlösungen, sondern nur ein zähes Bemühen am größtmöglichen Tisch. Umso dringlicher ist die Einberufung einer UN-Weltkonferenz zu Migration, Flucht und Asyl, analog zu den großen Weltkonferenzen seit den 1990er Jahren, am besten verbunden mit einer UN-Dekade zum Schutz der Flüchtlinge. Die Chance zur Einberufung einer UN-Weltflüchtlingskonferenz, die mit vereinten Kräften Abhilfe hätte einleiten können, wurde auf dem kleinen „Flüchtlingsgipfel“ am Rande der letzten UN-Vollversammlung in New York im September 2015 abermals verpasst. Es kann lange dauern, bis die Vereinten Nationen auf eine solche Initiative zurückkommen.

Eine solche Initiative wäre aber auch nur dann sinnvoll, wenn es dabei weniger um die kurative Behandlung oder Begrenzung der Folgen als um die Bekämpfung der Ursachen unfreiwilliger Wanderungen geht. Anzeichen dafür sehe ich bislang nicht, im Gegenteil:

Am Ende meiner im Jahr 2000 erschienenen europäischen Migrationsgeschichte habe ich warnend geschrieben: „Solange das Pendant der Abwehr von Flüchtlingen aus der sogenannten Dritten Welt, die Bekämpfung der Fluchtursachen in den Ausgangsräumen, fehlt, bleibt diese Abwehr ein historischer Skandal, an den künftigen Generationen das Humanitätsverständnis Europas im späten 20. und frühen 21. Jahrhundert bemessen werden.“ Daran hat sich bis heute nicht nur nichts geändert. Die Dimensionen sind vielmehr noch grauenhafter geworden. Sage später niemand wieder, er habe das alles nicht gewusst.

Sind moderne Migrationsbewegungen, wie wir sie derzeit erleben, denn überhaupt staatlich lenkbar oder gar verhinderbar? Können Grenzregime, wie sie seit Jahren in der Europäischen Union aufgebaut werden, ein wirksames Mittel dazu sein?

Prof. Bade: „Abschottung und Abgrenzung im Zeitalter des Internets sind eine Illusion“, hat Bundeskanzlerin Angela Merkel Anfang Oktober in einem Interview zu Recht gesagt. Im Zeitalter der weltweiten elektronischen Kommunikation gibt es allerdings gewisse Einflussmöglichkeiten, die auch vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge schon früher überprüft worden sind: Wenn sich zum Beispiel bei den Schleusern herumsprach, dass bestimmte Länder leichter zu erreichen seien oder andere zeitweise gar nicht, dass bestimmte Routen erfolgversprechender seien als andere, dann richteten sich zuweilen die Zuwanderungspfade anders aus; denn die Schleuser sind ja auf die ‚Handy-Kontrolle’ angewiesen: Wenn sich die Geschleusten bei ihren Angehörigen, die zum Teil für die Finanzierung der Reise zusammengelegt haben, nicht mehr melden, ist davon auszugehen, dass sie gescheitert oder sogar umgekommen sind. Ähnliche Wirkungen waren früher sogar bei den ‚Asylwanderungen’ von Flüchtlingen innerhalb Deutschlands zu beobachten, weil es deutliche Unterschiede in deren Behandlung in den einzelnen Bundesländern gab.

Aber die Geschichte des Kampfes gegen unerwünschte Wanderungen war oft die Geschichte von vergeblichen staatlichen Abwehrmaßnahmen, die nur zu anderen, neuen Routen führten. Zeitweise hatte staatliche Gegenpropaganda sogar den umgekehrten Effekt, weil man glaubte: Je mehr vor einem bestimmten Land gewarnt wird und je mehr sich ein Land selber verleugnet und sich sogar offensiv selber schlechtmacht, desto besser müssen die Bedingungen dort sein.

Verzweifelte Flüchtlinge sind durch keine Grenze aufzuhalten. Das haben auch die Amerikaner lernen müssen mit ihren gewaltigen Grenzbefestigungen gegenüber Mexiko: Die gestaffelten Zäune wurden immer höher, aber die illegale Zuwanderung stieg weiter an. Einerseits deswegen, weil viele legal einreisten, dann ihre Aufenthaltsgenehmigung überschritten und illegal im Land blieben. Andererseits, weil viele illegale Zuwanderer nicht mehr zu ihren Familien zurückkehrten und stattdessen alles daransetzten, ihre Familien nachzuholen. Selbst Länder, die durch das Meer umschlossen sind, haben mit illegaler Zuwanderung zu tun wie zum Beispiel Australien, das sich auf brutale Weise gegen illegale Zuwanderer wehrt, die in Booten über zum Teil riesige Distanzen hinweg die australischen Küsten zu erreichen streben – und dann auf entlegene Inseln deportiert werden.

Je mehr sich Europa abzuschotten sucht, desto mehr werden die Schleuser und Schlepper verdienen. Und wenn sich die „Festung Europa“ gewaltsam abschotten will, dann wird der ohnehin schon laufende menschenfeindliche und opferreiche Abwehrkampf gegen Flüchtlinge umso mehr Dimensionen und Formen annehmen, die mit den Menschenrechten im Allgemeinen und mit unseren vielbesungenen europäischen Werten im Besonderen absolut nicht mehr vereinbar sind.

Ganz abgesehen von den Ideen und Intentionen der Vätern und Mütter des deutschen Grundgesetzes 1948/49: In hitzigen Verhandlungen über das Grundrecht auf Asyl sagte der Sozialdemokrat Carlo Schmitt: Wenn man Asyl gewähren wolle, dann müsse man „generös“ sein und das schließe auch das Risiko ein, sich „in der Person geirrt zu haben“. Und der Christdemokrat Hermann von Mangoldt schloss sich ausdrücklich mit dem Bemerken an: Wenn man zu den vorgeschlagenen, bald berühmten vier Worten „Politisch Verfolgte genießen Asyl“ nur „irgend etwas“ hinzufügen würde, dann müsste „eine Prüfung durch die Grenzorgane“ erfolgen, wodurch „die ganze Vorschrift völlig wertlos“ würde. Und genau da sind wir heute angelangt – bei einem Asylrecht, dass in jenem Sinne „völlig wertlos“ erscheinen könnte.

Was werden die Folgen des nationalen, europäischen und globalen Versagens vor diesen Problemen sein?

Prof. Bade: Die Rache im Wanderungsgeschehen wird nicht ausbleiben: „The Empire strikes back“ stöhnen manche Briten. Andere glauben die Einwanderer aus ihren früheren Kolonien flüstern zu hören: „We are here, because you were there!“. Will sagen: Wenn wir uns nicht um die Menschen in den weniger entwickelten und oft in Konflikte verwickelten Regionen der Welt kümmern – dann kommen sie zu uns. Und was dann an Abwehrmaßnahmen aufgefahren werden würde, dürfte noch weniger mit den angeblichen Grundwerten der freien westlichen Welt vereinbar sein als das, was wir uns in dieser Hinsicht bislang ohnehin schon leisten.

Im Zusammenhang mit den aktuellen Fluchtbewegungen tauchen Begrifflichkeiten wieder auf, die die frühen 1990er Jahre erinnern. Verläuft die politische und mediale Diskussion ähnlich wie damals, als vor allem Flüchtlinge aus dem Bürgerkrieg im früheren Jugoslawien nach Deutschland kamen oder was ist heute anders?

Prof. Bade: Die Exzesse auf deutschen Straßen Anfang der 1990er Jahre hatten nur sehr bedingt mit den Zuwanderungsbewegungen selbst zu tun. Solche Behauptungen sind nur zigfach widerlegte Selbstrechtfertigungsversuche von Politikern. Die Exzesse waren in Wahrheit vor allem Ergebnis des Zusammentreffens der Ratlosigkeit der Bürger mit der Konzeptlosigkeit der Politik in Regierungsverantwortung. Sie entzündeten sich an dem jahrelangen ergebnislosen und am Ende durch wechselseitige Denunziationen zur Handlungsunfähigkeit der Politik führenden Asylstreit, der in den Medien stets weiter skandalisiert wurde.

Das hat schließlich dazu geführt, dass kleine radikale Minderheiten glaubten, mit ihren demonstrativen Untaten für die schweigsame Mehrheit sprechen zu können. Die suchte sich dann mit den berühmten Lichterketten von diesen Gruppen zu distanzieren. Politiker, die sich nun hier einreihen wollten, wurden oft demonstrativ zurückgewiesen, was wiederum oft die Falschen traf, während die eigentlich politisch Verantwortlichen für das Desaster in borniertem Zynismus auf die Bürger mit ihren angeblich albernen Lichterketten herabsahen.

Das ist heute anders: Es gibt eine starke Bürgerbewegung, die sich den – im Gegensatz zu den frühen 1990er Jahren oft überregional organisierten und über das Netz koordinierten – fremdenfeindlichen radikalen, extremistischen und neonationalsozialistischen Kräften entgegenstellt, Flüchtlinge schützt und ihnen hilft. Auch Politik scheint ein Stück weit aus ihrem Versagen Anfang der 1990er Jahre und aus den Folgen ihrer schön älteren ungezügelten populistischen Wahlkampfagitationen gegen „Migrantenfluten“, „Masseneinwanderung in die Sozialsysteme“, gegen „Sozialschmarotzer“, „Asylbetrüger“ und „Wirtschaftsflüchtlinge“, gegen „Ausländerkriminalität“, „nicht integrierbare Türken“ und „Integrationsverweigerer“ gelernt zu haben; abgesehen von der CSU, die damit dem bekannten Votum ihres geistigen Übervaters Franz Josef Strauß zu entsprechen sucht, dass es rechts von der CSU keine demokratisch legitimierte Kraft in Bayern geben dürfe, und dabei heute im Wettlauf mit der AfD selbst in Gefahr gerät, zu einer solchen Kraft zu werden.

Und auch die Medien haben sich ein Stück weit zurückgenommen, wobei es bemerkenswerte Themenwechsel gibt: Anfangs standen die Flüchtlingstragödien im Mittelmeer im Vordergrund; dann ging es besonders um brennende Flüchtlingsheime, dann vorwiegend um die Willkommenseuphorie gegenüber Flüchtlingen. Erkennbar war aber weithin das Bemühen, nicht ständig Menetekel vom Weltuntergang durch Massenwanderungen an die Wand zu malen, von Ausnahmen immer abgesehen, die aber die Regel bestätigten.

Nach den Vorfällen zum Beispiel in Freital und Heidenau, bei denen Flüchtlinge und Flüchtlingsunterkünfte angegriffen wurden, solidarisierten sich in Deutschland viele mit den Flüchtlingen. Eine neue Willkommenskultur wird eingefordert. Wie schätzen Sie das ein?

Prof. Bade: Im Umgang mit kultureller Vielfalt ist Deutschland gespalten: Auf der einen Seite steht die wachsende Gruppe der stillen Kulturpragmatiker bzw. Kulturoptimisten. Ihnen ist der Umgang mit kultureller Vielfalt längst normaler gesellschaftlicher Alltag geworden. Auf der anderen Seite steht die schrumpfende, aber umso lauter lärmende Gruppe der Kulturpessimisten. Ihnen ist die wachsende kulturelle Vielfalt gleichbedeutend mit dem Untergang des Abendlandes und in ihren Ohren klingt die Rede von kultureller Vielfalt und Einwanderung wie das Lied vom Tod der europäischen Kultur.

Die einen begrüßen Flüchtlinge und kümmern sich um ihre Probleme im Alltag. Eine kleinere Zahl demonstriert gegen die Zuwanderung von Flüchtlingen, insbesondere von Muslimen. Hier vereinen sich auf gefährliche Weise die alten sogenannten Islamkritiker, die ihre Felle davon schwimmen sahen, mit den neuen sogenannten Asylkritikern. Wenn sich charismatische Führungspersönlichkeiten finden, könnte das Ergebnis eine Art deutscher „Front National” sein, demgegenüber Pegida nur ein Puppenspiel gewesen wäre.

Brennende Willkommenseuphorie prallt auf brennende Flüchtlingsheime. Aber die extremistischen, zum Teil auch biedermännischen Brandstifter sind eine kleine Minderheit, mit denen auch diejenigen, die die Flüchtlingsaufnahme skeptisch sehen, meist nichts zu tun haben wollen. Insgesamt überwiegt zumindest derzeit noch das Willkommen, auch wenn es nicht mehr die frühere Willkommens-Euphorie ist, weil sich doch Zweifel einschleichen über die Frage, ob und wie das alles zu bewältigen sein wird.

Ob daraus eine Willkommenskultur werden kann, muss man abwarten: Eine Willkommenskultur muss ja mehr sein als die freundliche Begrüßung immer neuer Gäste am Hauseingang. Willkommenskultur müsste gleichbedeutend sein mit einer ähnlich einladenden Behandlung aller Einwanderer, die in den letzten Jahrzehnten ins Haus schon gekommen sind. Die aber hat man bis in jüngste Zeit unter dem Stichwort „Integrationsland“ gedrängt, sich endlich einseitig anzupassen. Das aber hatte mit „Willkommenskultur“ wenig zu tun.

Neuerdings wird häufig der Begriff „Völkerwanderung“ benutzt. Haben wir es heute mit einer modernen Form der „Völkerwanderung“ zu tun?

Prof. Bade: Der Begriff „Völkerwanderung“ ist im doppelten Sinne irreführend: Zum einen bezweifelt die historische Forschung heute, ob es in den Jahrhunderten vor dem Ende des Römischen Reiches überhaupt eine ‘Völkerwanderung’ in der seit dem 18./19. Jahrhundert vorgestellten Form gegeben hat. Es gab Bewegungen von bewaffneten Haufen, in deren Tross sich Familien der Kämpfer, aber auch Gruppen bewegten, die sich in den Gebieten angeschlossen hatten, durch die die Züge führten. Es gab wohl auch schrittweise, zum Teil über Generationen hinweg voranrückende Siedlungsgrenzen. Aber von einer kämpferischen Wanderung ganzer Völker wird kaum mehr gesprochen.

Erst recht ist der Begriff „Völkerwanderung“ irreführend für die heutigen Fluchtbewegungen: Es gibt die verschiedensten, wirtschaftlichen, politischen, sozialen, ethnischen, religiös-kulturellen und sonstigen materiellen und immateriellen Wanderungs- und Fluchtmotive von einzelnen, Familien, Gruppen, mitunter auch von ganzen Clans. Es gibt aber keine Wanderungen ganzer „Völker“ in Richtung Europa und schon gar nicht in kämpferischer bzw. okkupativer Absicht. Deswegen verbreitet der Begriff ohne Not Furcht und Schrecken. Wir sollten realitätsnah von Wirtschafts- oder Fluchtwanderungen sprechen.

Sie beteiligen sich an den Sozialen Medien und Netzwerken, auch um auf die Flüchtlingsthematik aufmerksam zu machen. Warum?

Prof. Bade: Immer mehr Menschen informieren sich über elektronische Medien, nicht ohne Grund klagen viele Printmedien über steigende Abonnentenverluste und sind deshalb selber auf Online-Versionen ausgewichen. Ich habe in den letzten Jahren zunehmend weniger dort und mehr im Bereich der sozialen Medien und in kleineren, themenbezogenen Newslettern publiziert, die sich an ein sachlich interessiertes Publikum wenden, dem man nicht jedes Mal aufs Neue die Welt erklären muss.

Das gilt zum Beispiel für den preisgekrönten „Mediendienst Integration“ (mdi), der ein Projekt des von mir vor rund zwei Jahrzehnten gegründeten Rates für Migration ist und die Medien mit Informationen und Hinweisen zu den Bereichen Migration und Integration, aber auch mit eigenen Artikel versorgt.

Und es gilt ebenso für das ebenfalls hochrangig ausgezeichnete Online-Fachmagazin für Migrations- und Integrationsfragen „Migazin“, in dem ich seit längerer Zeit eine eigene Kolumne schreibe. Ich habe mich bemüht, durch regelmäßige Veröffentlichungen in diesem Newsletter und dadurch, dass ich diese Quelle auch in wissenschaftlichem Kontext, zum Beispiel in meinem Sarrazin-Buch „Kritik und Gewalt“ immer wieder zitiert habe, dazu beizutragen, dass sich immer mehr Wissenschaftler als Autoren im ‘Migazin’ zu Wort gemeldet haben. Heute ist das ein ganz breit zur Kenntnis genommenes Internetforum.

Ausschnitt vom Flyer zum Zukunftssalon Quelle: Stadt Fulda

Ausschnitt vom Flyer zum Zukunftssalon Quelle: Stadt Fulda