Anna - Eine Kurzgeschichte

Anna – Eine Kurzgeschichte

von Sabine Wittich

Anna hasst es, nach Hause zu fahren. Ihr Elternhaus ist gefüllt mit Streit, Festbraten und Schweigen. Den ganzen Morgen schon hatte sie getrödelt, um den Abreisetermin zu verschleppen. Zweimal hatte sie den Hörer in der Hand um Gerda, ihre Mutter, anzurufen und abzusagen. Aber Anna konnte einfach nicht. Vielleicht konnte sie auch nicht die Vorstellung  ertragen, in eine Salve von Vorwürfen und Bittstellungen eingewickelt zu werden. Und das wahrscheinlich für das verdammte nächste Jahr. Sie musste erstmal einen Prosecco trinken. Für den Kreislauf, für das Befinden und den Mut, gleich ins Auto zu steigen und endlich loszufahren. Die Treppen knarrten zum Abschied, als sie ihre herrschaftliche Altbauwohnung verließ. Sie huschte noch einmal in die Apotheke, die gleich parterre unter ihrer Wohnung lag. Seit mehr als hundert Jahren war sie nun im Familienbesitz, klar wurde sie Pharmazeutin, was sonst. Ihr Vater hatte es so beschlossen, vielleicht sogar schon der Großvater oder der Urgroßvater. Die Apotheke wirkte unbeleuchtet fast wie eine Bar. Eine freundliche Pappfigur winkte Anna aus dem Schaufenster zu. Man könnte am Tresen fast ein Bier bestellen und die Regale ebenso gut mit Spirituosen füllen. Anna war beschämt amüsiert, sie hatte wohl einen kleinen Schwips.

Es roch herrlich nach Frühling in dem abgedunkelten Raum. Gerlinde war ein Engel und die zuverlässigste Mitarbeiterin, die Anna hatte. Mit viel Liebe zum Detail putzte Gerlinde hier  schon seit über zwanzig Jahren. Sie hatte schon unter den Argusaugen von Annas Vater geputzt. Anna schaute auf ihre Armbanduhr, gleich sechs. Mist. Um sieben war sie zum Weihnachtsessen verabredet und die Strecke war noch weit, tanken musste sie auch noch. Niemals würde sie es pünktlich schaffen. Eilig, aber sorgfältig verschloss sie ihre Apotheke. Für einen Moment hielt sie inne, hatte sie nicht irgendetwas vergessen, fehlte nicht was?

Lioba, die große stattliche Kirche gegenüber schlug sechs. Es war Zeit aufzubrechen.

Schneeflocken tanzten wild vor Annas Windschutzscheibe. Anna verlor sich beim Fahren in Gedanken; in den wunderbaren Blumengarten, in den Duft von Lavendel und frisch gebackenem Brot. Eigentlich ein wunderbarer Ort, ihr Elternhaus, das Haus ihres Großvaters, gebaut von ihrem Urgroßvater, aber nur eigentlich. Wäre da nicht eine stets maulende Mutter, die mehr auf ihre Blumen achtete als auf ihr Kinder und einem bigotten Vater, der sich seine Moral und seine Prinzipien durch Scheinheiligkeit und konsequente Kirchenbesuche erkaufte.

Mit einem Schmunzeln dachte Anna an Pola, ihr tschechisches Kindermädchen. Pola war warm, wie der erste kraftvolle Sonnenstrahl nach einem langen kalten Winter. Sie war Annas Zuflucht und das frisch gebackene Brot, mit dem sie jahrelang überlebte. Unbemerkt pflückten sie im Sommer Blumen aus Gerdas Garten und sie flochten sich wunderschöne bunte Blumenkränze, die sie heimlich trugen. Auf dem Dachboden trockneten sie Lavendel und Johanniskraut. Pola mischte Vater stets eine Prise von jedem Kraut ins Essen, „zur Beruhigung“ hörte Anna Pola sagen und erinnerte sich an ihr verschmitztes Lächeln.

Als Anna in die Auffahrt fuhr, stand Gerda schon im Eingangstor. Anna fühlte sich besser, wenn sie ihre Mutter mit Vornamen ansprach. In einer Hand ein Glas Rotwein, mit der anderen Hand eine vorwurfsvolle Geste: „Wir haben schon zweimal gebetet und die Suppe gegessen! Wo bleibst Du?“  Anna hauchte Gerda einen flüchtigen Kuss auf die Wange und achtete darauf, sie nicht zu berühren. Im Esszimmer warteten ihr Vater, ihr Bruder Jonas und das gute Geschirr. Jonas schien sich zu freuen, wagte es aber nicht, den Platz zu verlassen. „Ich habe für dich gebetet“ sagte Vater und wies ihr ihren Stuhl zu. Dann wurde geplaudert, höflich gefragt, verlegen gelächelt. Gerda bediente, Vater dozierte und Anna dachte an den vorzüglich italienischen Prosecco in ihrem Handschuhfach, der inzwischen herrlich durchgekühlt war. Gerda tischte auf, ohne eine Miene zu verziehen. Anna hasste Fisch, schon immer, schon immer jede verdammte Weihnachten. Ausgerechnet heute kam sie auf die Idee, ihn nicht zu essen. Eine wunderbare Idee. Jonas schaute irritiert und Anna bemerkte das erste Mal seine kleinen Fältchen um die Mundwinkel. Feine Linien, die ihn zu einem traurigen Clown machten. Nie hatte sie sich ihn in alt vorgestellt. Und da war es wieder, das Schweigen. Das Schweigen, das schwer und breit die Luft zum Atmen nahm, das jedes Verlegenheitslächeln einfror und aus den Gesichtern Fratzen formte. Der Fisch starrte Anna an, Jonas starrte den Tisch an und Vater faltete die Hände zum Gebet. Gerda flüchtete in die Küche. „Warum hast du Pola damals eigentlich rausgeschmissen?“ Anna hörte sich selbst sprechen. Noch einmal fuhr ihr der Schmerz wie eine feine kleine Nadel über die Haut. Sie erinnerte sich an die durchweinten Nächte und die Lavendelsäckchen mit denen sie sich in den Schlaf wiegte, nachdem Pola eines Abends nicht mehr da war. Gerda hatte Jonas und Anna das Nachfragen nach Pola stets untersagt. Mit Nachdruck.

„Pola war es nicht mehr würdig in meinem Haus zu leben“, Vater schaute nicht vom Teller auf. Auch nicht als Anna den Raum verließ. Schneeflocken kühlten ihre Wangen, der Winter kroch unter ihr Kleid und bereitete ihr Gänsehaut am ganzen Körper. Der Prosecco war eisgekühlt und befreite Anna von einem großen Durst. Anna kehrte zurück zum Haus und war stolz darauf, den Fisch nicht gegessen zu haben. Vor dem Esszimmer bog sie ab und ging die breiten alten Holzstufen hinauf zum Dachboden. Jene Stufen, die sie als Mädchen nur schleichend betreten durfte. Die Standuhr schlug zehn. Als Kind hatte sie sich vor der Uhr gefürchtet. Erst als Pola ihr die Geschichte von den „sieben Geißlein“ erzählte, konnte sie sie ertragen. Die Tür zum Dachboden war wie damals verschlossen und der Schlüssel steckte noch immer hinter dem Bild der heiligen Jungfrau Maria. Die Tür knarrte vertraut, auch der modrige Geruch nach Schimmel und altem Holz war geblieben. Hier oben war lange Zeit niemand gewesen. Alles war voll Staub, gleichmäßig zugedeckt, fast zärtlich umhüllt. Um einen Balken waren noch die Überreste von getrockneten Blumen und Kränzen zu sehen. Annas alte Blockflöte lag im Notenständer wie zu einem Dornröschenschlaf mit Spinnenweben überzogen. Und da war Pola. Ein Familienbild. Es lag einfach so auf einem alten Koffer. Gerda und Vater, Jonas und Pola, die die kleine Anna fest an sich gedrückt hielt. Im Hintergrund das mächtige Anwesen. Anna konnte sich an dieses Bild nicht erinnern und wischte mit ihrem Ärmel das Glas sauber. Als sie das Bild in ihre Tasche stecken wollte, zerbrach es. Vorsichtig zupfte Anna die kleinen Scherben vom Foto. Da war noch etwas. Hinter dem Familienbild war noch ein Foto, ein viel kleineres. Anna betrachtete es. Das war Pola, ganz jung, mit langem dunklem Pferdeschwanz. Anna erinnerte sich an das nach Pfirsich duftende Haar, in das sie sich damals so gerne vergrub. Pola hatte ein Kind auf dem Arm. Anna stutzte, im ersten Moment dachte sie, sie sei es selbst. Sie wendete das Foto. Anna erkannte die Schrift sofort. Das war Vaters Schrift. In großen kaligraphischen Lettern stand dort „Pola und Gerlinde, 1973“.

Wie konnte das möglich sein. Anna war 1973 geboren, Pola war von Anfang an bei ihr. Nie hatte sie davon gehört, dass Pola ein eigenes Kind hatte. Dann fiel Anna auf einmal ein, dass ihre Standuhr in der Apotheke heute nicht geschlagen hatte. Keinen Mucks. Dann dachte sie wieder an Pola, an die sieben Geißlein, an Pfirsichduft und Lavendelsäckchen.  Ihr war wirr zumute, ihr Kopf war einfach zu schwer.

Anna verließ den Dachboden und polterte die Stufen hinab ins Esszimmer. Forsch wedelte sie mit dem Foto vor Vaters Augen. Er stand auf und Anna war darüber verwundert wie klein er war. „Es ist besser, du gehst jetzt!“ sagte er still, aber bestimmt. Wieder Schweigen. Ein Schweigen, das die Luft verpestete. Jonas wurde schlecht und Anna bekam keine Luft mehr. Sie flüchtete aus dem Esszimmer, aus dem Haus mit der großen schweren Tür, fest entschlossen, niemals mehr zurückzukehren. Sie setzte sich in ihr Auto und griff ins Handschuhfach. Als sie die Flasche mit einem Zug leerte, klopfte es auf einmal an ihr Fenster. Gerda: „Du kennst Gerlinde, du kennst sie schon lange Zeit.“ Gerda sah traurig aus und unendlich müde. Sie drehte sich um, richtete ihre Schürze und ging zurück zum Haus und wurde von dem großen Eingangstor gnadenlos verschluckt.

Anna fuhr los.

Sie dachte an ihre Apotheke, an Gerlinde, an die Standuhr und daran, dass sie niemals mehr an diesen Ort zurückkehren würde.

 

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“GERLINDE” ist eine weitere Kurzgeschichte von Sabine Wittich.