Gerlinde - eine Kurzgeschichte

Gerlinde – eine Kurzgeschichte

Estelle, Catherine, Marie vielleicht sogar Marie-Claire, so hätte ich heißen müssen. Klingend, weich fließend, die Zunge streichelnd, schon mein Name wäre eine Melodie. „GERLINDE!“ höre ich mich selbst sprechen, „Gerlinde“ versuche ich es sanfter, aber  dieser Name liegt mir bitter auf der Zunge. Was hat sich Vater nur dabei gedacht. Gerlinde ist ein Urteil, eine schlimme Diagnose ohne Therapie und Aussicht auf Heilung. Gerlinde Hausmann, die dicke Putzfrau von nebenan. Was sonst. Manchmal, wenn ich die Apotheke aufschließe, stelle ich mir vor, sie gehöre mir. Ich bin die hübsche Pharmazeutin und mein Kittel wäre weiß nicht blau, mein Haar blond zu einem feinen Knoten im Nacken zusammengesteckt. Ich fahre mir über den Kopf und spüre, wie mein borstiges Haar durch meine Finger gleitet, natürlich kurz und braun. Schnell husche ich an der Standuhr vorbei, um mich nicht im Spiegel der Glastür anschauen zu müssen.

Gleich ist es Mitternacht und der Tag meiner Geburt jährt sich zum 40. Mal.

Groß und hell, in altrömischen Ziffern trohnt die alte Standuhr über mir. Sie beobachtet mich seit Jahren. Zeugin meiner Vergänglichkeit, Maßstab meiner Zeit und quälender Beweis meiner Einsamkeit. Dennoch, ich versuche sie mit einer gewissen Grazie  abzustauben, nicht mehr ganz eine Stunde und sie wird gellend über mich herfallen. Zwölf mal wird sie läuten, sie wird mich läutern und nach mir rufen: „Gerlinde, wie siehst Du aus heute. Gerlinde kämm Dich. Gerlinde, dass kannst Du nicht, hässlich mein Fräulein, hässlich, hau ab!“

 

„Gerlinde, Gerlinde“, mein Name fließt durch meine Ohren wie das Blut durch meine Venen. Manchmal schüttele ich einfach den Kopf, in der Hoffnung, die Worte fallen einfach aus meinen Ohren. Vergebens. Ich arbeite einfach weiter. Zitrusduft verteilt sich langsam im ganzen Raum, mein Staubwedel gleitet sanft über die Oberfläche des Tresens, über Tablettenschachteln, Röhrchen und Gläser. Medizin gegen Bauchschmerzen, Halsschmerzen, gegen Schnupfen und Husten, zur Beruhigung, zum Schlafengehen und Wachwerden, hier  gibt es einfach alles. Ob es was gegen Gerlinde gibt? Lautlos gleitet eine kleine blaue Schachtel mit grünen Buchstaben in die Tasche meiner Kittelschürze. Ich schaue mich um, nur die Pappfigur aus dem Schaufenster hat es gesehen.

Da klickt es noch einmal in der Standuhr, das Ziffernblatt ist hell erleuchtet, großer und kleiner Zeiger innig vereint, der Klöppel atmet noch einmal durch um Schwung zu nehmen. Doch noch vor dem ersten Gongschlag verstummt die Uhr und steht still.

 

Es muss laut gescheppert haben, als die mächtige Standuhr stöhnend zu Boden fiel. Tausend kleine Scherben sind wie ein Schwarm Mücken durch die Luft geflogen und bedecken ihn. Vorsichtig zupfe ich die kleinen Kristalle aus meinem Haar. Blut rinnt mir an den Händen runter, tropft in dicken warmen Klecksen auf meinen blauen Kittel. Der Boden ist kalt und staubig. Meinen Sturz habe ich nicht bemerkt. Niemand hat ihn bemerkt. Doch noch bevor der erste Gongschlag tönte, hatte ich ihr das Herz aus dem Leib gerissen. Ich schließe die Augen und lausche, sie schweigt, endlich.

Nur der Wind, der den kalten Winter durch die Straßen treibt, heult ohne Unterlass. Ich liege am Boden, ich atme ein, ich atme aus, ich atme ein, ich versuche nicht mehr zu atmen aber es atmet von ganz allein. Meine Gedanken kreisen und ich frage mich, ob er sich meinen Namen schon vor meiner Geburt ausgedacht hatte? Vorsichtig, aber bestimmt drängt sich das Licht durch die Schaufensterdekoration, vorbei an der lebensgroßen Pappfigur, die erhaben über mir steht. Vorsichtig blinzele ich und putze meine Hände an meinem Kittel ab, er ist ja eh nur blau. . . und der schöne Tresen, schnell mache ich ihn sauber, Glassplitter fallen erneut zu Boden, meine Beine sind weich und ich halte mich immer wieder  fest, bis die Verkaufsfläche reinlich und die Apotheke von den Spuren der Nacht befreit ist. „Gerlinde, was hast Du gemacht?“ flüstert mir die lächelnde Pappfigur zu und ich schaue beschämt zu Boden.

Der Schlüssel klickt leise, das Schloss ist eiskalt, meine Hände sind steif und ich drehe mich noch einmal um, stumm und ohne Glanz schaut mir die Standuhr hinterher, als ich die Apotheke sicher verschließe, es könnte ja meine sein. Mit einem Schritt hat mich die Nacht gefangen, Eiskristalle legen sich sanft auf mein Haar, ich schließe die Augen, während der Winter unter meinen Kittel kriecht. „Denkt er heute an mich?“

Noch einmal betrachte ich die Pappfigur die mir nun freundlich aus dem Schaufenster zu winkt.

Die Kirchturmuhr  schlägt zwei. Lioba, welch ein prunkvoller Name, ein Geschenk für die Ohren. Lioba, die Liebende. Niemals würde ein Gottesgeschöpf Gerlinde heißen. Schnell bin ich auf der anderen Straßenseite bei Lioba. Sie hat keine Tür, sie hat ein mächtiges Tor, groß und schwer, dunkle Metallbeschläge sichern ihr die Zukunft. Eigentlich gehe ich nicht in die Kirche. Ich glaube nicht, natürlich nicht, Vater hat mich nicht getauft. Das Tor kreischt leise, als ich es vorsichtig, aber mit aller Kraft öffne, dann schleicht es ächzend wieder zurück in sein Schloss. Die Straßenlaternen leuchten schwach durch die bunten Scheiben der Kirche und hüllen Lioba festlich und friedlich ein.

Nur wenige besuchen sie in der Nacht. Eine alte Frau kniet ehrfürchtig in der letzten Reihe, ihr alter runder Rücken zusammengesackt, ihr Gesicht in runzligen Händen vergraben, sie schläft. Sie hört mich nicht. Sie hört nicht, wie die blaue Schachtel mit der grünen Schrift zu Boden fällt. Sie bemerkt auch nicht, wie ich mir mit der Hand das gesegnete Wasser vorsichtig zum Mund führe. Lautlos gleitet das Mittel des ewigen Schlafs, vereint mit dem heiligen Wasser der Seeligkeit, meine Kehle hinab und verbreitet seinen bittersüßen Frieden. Würde ich glauben, ich würde beten. Meine Zunge wird schwer, mein Körper warm, mein Herz wird warm, fast beschwingt. Da höre ich jemanden schnaufen, mit tiefen ruhigen Atemzügen, „Vater? Bist Du das?“ Meine Augen können ihn nicht finden. Sicher sitzt er weiter vorne und wartet auf mich. Vielleicht ist er eingeschlafen. Ich gehe zu ihm. Nein, ich gehe nicht, ich schreite.  Es könnte ja meine Hochzeit sein. Meine Füße schleifen über die blanken kalten Fliesen. Nur noch schwer erkenne ich die Konturen der Kirchenbänke. Stolz schreite ich den Gang entlang, die Augen halb geschlossen, den Arm angewinkelt. Vater will sich sicher gleich bei mir einhaken, wenn er mich zum Traualtar führt. Ich schreite und ich lächele, was ein schöner Geburtstag.

 

– Ein Gastbeitrag von Sabine Wittich