Über Menschenpflege und Blumenwiesen
Wie sich mir aus einer Recherche über Mindestlohn neue Sichtweisen über ein Berufsfeld offenbarten – eine Hommage an die Altenpflege von unserem Redaktionsmitglied Felix Döppner
Die Idee war denkbar einfach und logisch, denn in der jetzigen Ausgabe erscheint ein Artikel über Mindestlohn. Was liegt also näher, als über Menschen zu schreiben, die in Vollzeit arbeiten, aber dennoch finanziell kaum über die Runden kommen? In vielen Medien geistert das Gespenst des Mindestlohns als Konjunkturvernichter und Gewinnräuber herum, so dass eine persönliche Geschichte die Perspektive auf das Thema verändern könnte. So war zumindest der Plan.
Was stattdessen passierte, war das Kennenlernen dreier Frauen, die mit Begeisterung über ihren Beruf als Altenpflegefachkraft berichteten. Aber auch von herzlosen Systemzwängen und einem falschen Image des reinen Abfertigens getreu dem Motto „sauber und satt“ war die Rede.
Irgendwo in einer kleinen Altbauwohnung in der Fuldaer Innenstadt sitze ich zusammen mit Brigitte, Eva und Julia am Küchentisch. Die Drei haben unterschiedliche Erfahrungen im Pflegedienst: Brigitte und Eva sind bereits seit über zehn Jahren in diesem Beruf tätig, Eva absolviert gerade die Ausbildung. Julia, eine Kollegin und Freundin von Eva. „Altenpflegerin ist mein Traumberuf!“, beginnt Brigitte, bevor ich irgendeine Frage stellen konnte. „Wenn nur die Arbeitsbedingungen nicht so gruselig wären“, fügt sie in einem Nebensatz hinzu. „Traumberuf?“, frage ich verwundert nach. Und dann sind alle drei nicht mehr zu stoppen. Vielseitig sei ihre Profession, was man schon an der Ausbildung erkennen könne. Das Staatsexamen teste die Auszubildende über Wissen über den menschlichen Körper, über altersbedingte Krankheiten und wie man sie bemerken und betreuen könne, welche Medikamente es vornehmlich gibt und deren Dosierung. Aber auch Politik, Betreuungsrecht, Hygiene, Sterbebegleitung und natürlich auch praktische Fähigkeiten, besonders die Grundpflege, gehören zu den Lehrinhalten.
Ich schaue anscheinend immer noch skeptisch, denn Eva erklärt weiter. Man dürfe die alten Menschen nicht als Ding oder Zimmernummer sehen. „Es sind ja Menschen mit einer unglaublichen Lebenserfahrungen, die erzählen wollen, von denen man etwas lernen kann“, und Julia ergänzt: „Und viele sind toleranter als andere Mitmenschen.“ Dabei erinnert sie sich speziell an eine Geschichte, als eine Bewohnerin erfreut ausrief: „Ich hab dich schon an deiner Blumenwiese am Arm erkannt!“ Die alte Dame meinte Julias Tätowierung, mit dem ihre Vorgesetzten erheblich mehr Probleme hätten als die zu Pflegenden. Eine andere ältere Dame konnte nach einem Schlaganfall nicht mehr sprechen und rief eines Nachts Schwester Eva per Rufknopf. Aufgeregt zeigte die Dame an die Zimmerwand. Eva rätselte, was gemeint war und fing an nachzufragen, Dinge im Zimmer zu benennen, sämtliche Hygieneartikel aus dem Bad zu holen – alles ohne Erfolg. Traurig verabschiedeten sich beide, bis Eva im Computer nachschaute und feststellte, dass es nach Mitternacht war, die Dame also Geburtstag hatte und sie dies durch den Kalender an der Wand zeigen wollte. „Die kleine Party in der Nacht war unvergesslich“, sagt Eva.
„Und dann die Demenzkranken“, berichtet Brigitte weiter. „Hier Wege zu finden, um mit den Menschen zu kommunizieren ist mehr als spannend.“
Natürlich seien Demenzkranke gerade am Anfangsstadium ihrer Krankheit oft aggressiv. „Aber dann gehen sie zurück in ihre Kindheit und wir Pflegerinnen werden zur Schwester, Tante oder Mutter.“ Julia fügt schmunzelnd hinzu: „Oft mache ich mich morgens erst zum Obst, wenn ich ins Zimmer komme: Da muss erst getanzt oder gesungen werden, bevor es mit der Grundpflege losgeht.“
Für mich klingt das alles gerade ziemlich harmonisch. Ich weiß aber, ob des großen Schattens, den wir im Alltag so gerne ignorieren, in einem Altenheim aber alltäglich ist und frage gerade heraus: Wie das mit dem Tod sei, möchte ich spontan wissen. Der gehöre dazu, wird mir gesagt. Die Stimmung wird nun erster, gleichzeitig bleibt aber die Offenheit im Raum. Es gebe Menschen, die sich sehr schwer tun mit dem Sterben. „Aber wenn es so ist, dann haben sie meist noch was zu erledigen“, spricht Brigitte und berichtet von einem Fall, bei dem ein Sterbender wochenlang nicht loslassen konnte, bis dann doch endlich sein Bruder, mit dem er jahrelang nicht mehr gesprochen hatte, ans Bett trat. „Drei Tage später ist der Mann dann gestorben“, beendet die Pflegerin ihre Geschichte. „Ja und dann gibt es noch die, die Sterben wollen, und die zu begleiten, das ist ein Geschenk“, so Eva. „Denn sie haben alles erlebt, was sie zu erleben hatten und sind bereit, zu gehen. Dann wird der Tod zu einem Gefährten und das ist wunderbar“, ergänzt sie.
„Dies alles funktioniert aber nur, wenn die Rahmenbedingungen stimmen“, sagt Brigitte und wird ernst.
Alles sei viel leichter, wenn das Team stimme. Denn natürlich gibt es Patienten, mit denen man besser kann und andere, mit denen man überhaupt nicht zurecht komme. Stimmt das Team, so könne man das offen aussprechen und man tauscht einfach. „Gemeinsame Reflektionen in einem guten Team kommen auch automatisch“, berichtet Brigitte. Denn durch die prekäre Personallage in vielen Einrichtungen entstehen Grenzsituationen. „Man hat Zeitdruck, einen Berg voll Arbeit und dann einen Bewohner, der einen schlechten Tag hat und nur rummotzt. „Dann braucht man ein Umfeld, das einen auffängt, in dem man auch mal seinen Ärger rauslassen kann, Tür zuschlagen oder gegen die Wände trommeln darf“, sagt Eva. „Ja, und wegen der chronischen Unterversorgung und einem System, bei dem die Verwaltungsarbeit wichtiger ist, als der menschliche Umgang, sind gute Teams leider selten“, gesteht Brigitte. Ich hake nach und möchte mehr über den Tagesablauf wissen. Die Atmosphäre am Tisch verändert sich schlagartig, denn die Damen sind empört. Wenn es gut läuft, ist der Quotient zwischen Dokumentation der gemachten Arbeiten sowie das medikamentöse Einstellen der Patienten und die Arbeit mit dem Menschen 70 zu 30. Ausgebildete Pflegefachkräfte hätten beispielsweise immer weniger Umgang mit den alten Menschen, sitzen vermehrt am Computer, während Pflegehelferinnen und Umgeschulte die Pflege übernehmen. Dabei wird von dem medizinischen Dienst der Krankenkassen (MdK) penibel darauf geachtet, dass die zeitlichen Vorgaben gemäß der Pflegestufen nicht überschritten werden. Für die Grundpflege (Waschen, Essen reichen, Zimmer aufräumen, Anziehen, Ausziehen, zu Tisch bringen, Bett machen, Zahnpflege, Darm- und Blasenentleerung etc.) hat man bei Pflegestufe I insgesamt 45 Minuten zur Verfügung. Bei Pflegestufe II schon zwei Stunden pro Tag. Die Pflegestufen legt der MdK fest – sprich die Krankenkassen, die auch die Kosten für die Pflege übernehmen. Der Interessenkonflikt bei der Wahl der Pflegestufe ist damit systembedingt.
Eva erzählt mir, dass sie in einer Schicht schon einmal alleine für elf Personen zuständig war. Wie lange sie ihren Beruf noch ausüben kann, weiß sie nicht. Obwohl sie unter 30 Jahre alt ist, hat sie schon heute Rückenschmerzen. „Eine Berufkrankheit“, sagt sie, denn beim Umlegen der Patienten auf Hilfe zu warten oder Hilfsmittel alleine einzusetzen koste Zeit und die sei eben Mangelware. Daher erledigt sie auch ihre Verwaltungsaufgaben erst nach Schichtende. Während ihrer regulären Arbeitszeit gibt es dafür keinen Raum.
„Aber wir geben unser Bestes, denn wir arbeiten ja mit Menschen. Ihre Gesundheit und Wohlbefinden liegen oft in unseren Händen. Auch das von Angehörigen, die oft erst sehr lange selber zu Hause pflegen und ihre Liebsten erst abgeben wenn es gar nicht mehr geht und das weiß das System und nutzt es aus“, verabschiedet mich Brigitte. Und so laufe ich beeindruckt von der Beharrlichkeit meiner Gesprächspartnerinnen nach Hause. Zum ersten Mal denke ich ernsthaft über das Älterwerden nach. Auch über die Alten, die ein ganzes Leben gelebt, die dunklen sowie die Sonnenseiten des 20. Jahrhunderts erfahren haben und von der Gesellschaft plötzlich auf null gestellt, als Alte abgestempelt werden, als ob sie nie Erfahrungen wie Schmerz und Freude, Hoffnungen, Enttäuschungen und Visionen hatten. Sie sind alt, Schublade auf und tschüß. Wenn sie Glück haben gibt es noch liebevolle Angehörige. Weiteres Glück ist, auf Pflegekräfte mit Herz und Seele zu treffen. Mit solchen, wie die mit denen ich vor wenigen Minuten an einem Tisch gesessen habe. Die Frauen nehmen stets den Menschen wahr und schätzen deren Erfahrungswelten – auch wenn der berufliche Alltag dies mitunter erschwert.
Und ganz hinten, in der letzten Ecke meiner Vorstellungskraft wird mir klar, dass auch ich einer dieser demenzkranken Alten in Zukunft sein könnte und dann hoffe ich, auf jemanden, der sich auch für mich zum Obst macht.
P.S.: Das Einstiegsgehalt für Pflegefachkräfte liegt in Hessen bei ca. 1500 € brutto. Julia ist alleinerziehend. Mit ihrem Ausbildungsgehalt kommt sie nicht über die Runden und sucht sich jetzt einen zweiten Job. Nachts.