Von Bars und Börsen
Die Bar „El-Farol“ ist wohl die beliebteste Bar unter Mathematikern. Aber nicht etwa, weil diese sich dort gerne kollektiv betrinken, nein das tun Mathematiker für gewöhnlich eher selten, sondern wegen des nach ihr benannten „El-Farol-Bar-Problems“.
Denn El-Farol ist in der Tat eine sehr beliebte Bar. Dies führt mitunter zu Frustrationen, da der Andrang möglicherweise die Verfügbarkeit an Plätzen übersteigt. Und hier kommen die Mathematiker ins Spiel. Denn diese haben das Problem untersucht, mit der Absicht, einen Algorithmus zu finden, der ihnen helfen soll, sich einen unnötigen Versuch, in der Bar einen Sitzplatz zu bekommen, zu ersparen. So nehmen sie also z.B. an, die Bar hätte 150 Plätze und es gibt genau 301 Interessenten (301 damit es keinen Gleichstand geben kann). Und alle wollen nur genau das Eine, nämlich zur Bar zu gehen, wenn es nicht zu voll ist und ansonsten zu Hause zu bleiben. Mathematisch abstrahiert formuliert man das Problem so: Jedes Individuum trifft in jeder Runde eine Entscheidung aus zwei Möglichkeiten – hingehen oder daheimbleiben. Jedes mal, wenn das Individuum mit der Entscheidung in der Minderheit lag, erhält es einen Pluspunkt, denn zu der Minderheit zu gehören, bedeutet ja, entweder einen Platz zu bekommen, da die Bar mit weniger als 150 Menschen nicht voll ist, oder mit der Entscheidung zu Hause zu bleiben genau richtig zu liegen, da sich die Mehrheit – also zu viele Menschen für die verfügbaren Plätze – in der Bar befindet. Gehört man dagegen zur Mehrheit, bekommt man in der Theorie einen Minuspunkt.
Kurz gesagt, man sollte immer das tun, was die anderen nicht machen. Folgt man nun dem Standpunkt der klassisch liberalen Wirtschaftstheorie, die davon ausgeht, dass der Kunde streng rational handelt, kommt man schnell in ein Dilemma. Denn in unserem Beispiel erhalten alle Kunden dieselben Informationen und müssten so auch alle zu demselben Entschluss kommen. Mit dem Ergebnis, dass die Bar entweder immer voll oder immer komplett leer ist. Also sind alle immer unglücklich, in unserem Beispiel würde sie ständig Minuspunkte erhalten.
Das Gemeinwohl indes, ist dann am größten, wenn möglichst viele Menschen glücklich sind. (Es werden die meisten Pluspunkte verteilt). Die Preisfrage lautet nun, wie man dies erreicht. Findige Mathematiker wollten dies herausfinden und haben die Entscheidungen der Individuen durch verschiedene Computerprogramme simuliert. Diese Programme laufen in etwa so ab: Jedes Individuum bekommt ein gewisses Repertoire an Strategien, die es verwenden kann. Von diesen Strategien wählt es jeweils die, mit welcher es im vergangenen Zeitraum den meisten Erfolg gehabt hätte. Der Programmierer variiert dabei das Gedächtnis, also die Menge an Informationen, die das Individuum zur Wahl seiner Strategie einbeziehen kann. Denn auch die Strategien und Erfahrungen sind von Person zu Person unterschiedlich.
Der theoretische Physiker Andrea Cavagna führte genau so eine Simulation durch. Jedoch ersetzte er die Erinnerung an die vorherigen Runden, also die Erfahrungen und Anzahl von Strategien, durch für alle gleichen Nonsens. Interessant ist nun, was dann passierte, nämlich gar nichts! Insgesamt blieben die Resultate identisch zu den Computersimulationen, die bei der Entscheidungsfindung der Einzelnen unterschiedliche Vorerfahrungen und Fähigkeiten heranzogen.
Das ist sehr erstaunlich und führt zu weitreichenden Konsequenzen, wenn man diese Erkenntnisse z.B. auf die Börse überträgt. Dort findet man eine ähnliche Situation: Bezüglich einer Aktie, eines Derivats oder sonst eines Produkts wählt der Händler zwischen zwei Optionen (kaufen oder verkaufen) und er gewinnt, falls er zur Minderheit gehört. (Falls er verkauft und zur Minderheit gehört kann er einen höheren Preis erzielen; wenn er kauft einen niedrigeren). Seiner Entscheidung zugrunde liegen bestimmte Strategien (in Form von Analyseprogrammen) und welchem Programm er vertraut hängt von seiner früheren Erfahrung ab. Wie oben angeführt ist diese frühere Erfahrung jedoch vollkommen irrelevant, was ein neues Licht auf die Tätigkeit all jener wirft, die solche Entscheidungen treffen. Natürlich handelt es sich hier um ein stark vereinfachtes Modell und die Erkenntnisse sind nicht komplett übertragbar. Man kann sich jedoch grundsätzlich einmal fragen, wie viele kluge Köpfe man in einer Volkswirtschaft tatsächlich darauf verwenden sollte, Datensätze zu analysieren, um vermeintlich die beste Entscheidung zu treffen.
Und selbst die beste Entscheidung für die einen kann die schlechteste für die anderen sein: In den letzten Jahrzehnten ist der globale Finanzmarkt auf ein Volumen angewachsen, das so einige Fragen der Sinnhaftigkeit aufwirft. Das Institut der deutschen Wirtschaft in Köln datiert allein das Volumen des Handels mit unregulierten Finanzprodukten auf etwa das zehnfache des weltweiten Bruttoinlandsprodukts. Diese Entwicklung wurde vorangetrieben zum einen durch die stetige Deregulierung der Finanzmärkte seit Mitte des 20. Jahrhunderts, dem scheinbar unermüdlichen Erfindergeist zu immer neueren, komplizierten Finanzprodukten und nicht zuletzt durch den digitalen Wandel, der computergesteuerte Transaktionen in Millisekunden- schnelle ermöglicht und so schon minimale Kursschwankungen attraktiv für Spekulationen macht. Ich denke, es ist offensichtlich, dass eine hoch entwickelte Volkswirtschaft auch einen hoch entwickelten Finanzsektor benötigt. Dieser versorgt die Realwirtschaft mit Krediten und leistet so wichtigen Innovationen Vorschub. Gegenwärtig besteht jedoch die Situation, dass sich ein Großteil des Finanzsektors komplett von der Realwirtschaft abgekoppelt hat. Dies ist eine Entwicklung die in vielerlei Hinsicht volkswirtschaftlich schädlich ist. Erstens geht von diesen Märkten ein immenses Krisenpotential aus, wie nicht zuletzt die Finanzkrise von 2008 gezeigt hat. Zweitens sind die Geschäfte meist rein spekulativer Natur, ohne dahinterstehendes realwirtschaftliches Interesse. Im Endeffekt also eine Wette auf den Preis eines Produkts, ohne dass sich jemand je für das Produkt selber interessiert hätte. Das ist schädlich, weil hier nicht wie bei klassischen Finanzinvestitionen Kapital in die Wirtschaft fließt, sondern nur Vermögen verschoben wird. Zu guter Letzt werden massiv volkswirtschaftliche Ressourcen für eine Art virtuelle Wertschöpfung mobilisiert, die keinen realen Wohlstandsgewinn erzeugt (außer für einige wenige, denen ermöglicht wird mit Geld noch mehr Geld zu verdienen).
Man kann abschließend feststellen: Eine beträchtliche Anzahl von Mathematikern, Informatikern und Physikern wird von Investmentbanken dazu eingesetzt, Datensätze von Kursverläufen zu analysieren und Programme zu schreiben, die dann die vermeintlich beste Kaufempfehlung ausgeben, obwohl das Experiment oben zeigt, dass Strategie und Erfahrung für die richtige Entweder-Oder-Entscheidung letztlich irrelevant sind.
Eine Verschwendung kluger Köpfe also, die an anderer Stelle wirklich etwas bewegen könnten – und wenn sie nur dazu beitrügen, dass möglichst viele Menschen einen Platz in ihrer Lieblingsbar finden.
Von Fabian Hahner